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Trotz Abhöraffäre Merkel bremst beim Datenschutz in Europa

Kanzlerin Merkel präsentiert sich als empörtes Abhöropfer. Doch als es beim EU-Gipfel um Datenschutz für Europas Bürger ging, zeigte sich Merkel weit weniger engagiert. Amerikanische IT-Firmen können ihr Glück kaum fassen.
Kanzlerin Merkel: Auf der Seite der Abwiegler

Kanzlerin Merkel: Auf der Seite der Abwiegler

Foto: Yves Logghe/ AP/dpa

Eine Unterscheidung war Bundeskanzlerin Angela Merkel beim EU-Gipfel in Brüssel besonders wichtig. Wenn sie sich über das vermeintliche Abhören ihres Handys beschwere, ginge es nicht um sie selbst, sondern um die "Telefone von Millionen europäischer Bürger", deren Privatsphäre durch US-Spionageaktivitäten gefährdet seien.

Doch als beim Abendessen der EU-Staatschefs am Donnerstag eine schärfere Datenschutzverordnung auf der Tagesordnung stand, war Merkels Kampfgeist für Europas Bürger wieder erloschen. Wie interne Unterlagen zeigen, bremste Deutschland eine rasche Verabschiedung der Reform.

Mitgliedstaaten wie Frankreich, Italien und Polen hatten darauf gedrängt, einen modernen Rahmen für europaweiten Datenschutz noch vor der Wahl eines neuen Europaparlaments im Mai 2014 zu zimmern. Denn danach würde jede Initiative auf das Jahr 2015 vertagt.

Großbritannien, das selbst der Spionage gegen EU-Partner verdächtigt wird und dessen Premier David Cameron sich vom ehemaligen Google-Chef Eric Schmidt beraten lässt, war strikt dagegen. In der Gipfel-Abschlusserklärung sollte nach dem Willen Londons nur stehen, dass ein solider Rahmen für den Datenschutz in der EU "rasch" verabschiedet werde.

Rückschlag für "Europas Unabhängigkeitserklärung"

Merkel schlug sich auf die Seite der Bremser. In internen Unterlagen des Auswärtigen Amts zur Abschlusserklärung, die SPIEGEL ONLINE am Wochenende zugespielt wurden, findet sich im Korrekturmodus zu Punkt 8 des Themenkomplexes "Digital Economy" ein entscheidender Änderungsvorschlag. Statt "adoption next year", der Verabschiedung im nächsten Jahr, solle dort nur noch stehen: "The negotiations have to be carried on intensely" - die Verhandlungen müssen intensiv fortgeführt werden.

In der offiziellen Gipfel-Abschlusserklärung ist schließlich nur noch von einer "raschen" Verabschiedung die Rede, ganz nach dem Geschmack der Briten.

Das ist ein Rückschlag für eine schärfere EU-Datenschutzverordnung, die Justizkommissarin Viviane Reding "Europas Unabhängigkeitserklärung" nennt. Das Europaparlament hat gerade erst schärfere Regeln in den Entwurf eingebracht - darunter mögliche Strafen in Milliardenhöhe, sollten Internet-Unternehmen private Daten rechtswidrig an US-Geheimdienste weitergeben. Selbst Merkel-Parteifreunde im EU-Parlament wie Manfred Weber (CSU) sagen: "Wir brauchen endlich politischen Willen für mehr Datenschutz."

US-Internetkonzerne konnten ihr Glück über Merkels Schützenhilfe kaum fassen. Nun hoffen sie auf mehr Spielraum, die Datenverordnung zu verwässern, sobald der Ärger über den jüngsten Abhörskandal verraucht ist. Ein hochrangiger amerikanischer IT-Manager sagte der "Financial Times": "Als wir die Story über Merkels Telefon sahen, dachten wir noch, wir würden verlieren."

Doch der Zorn von Europas Spitzenpolitikern begann schon während ihrer Beratungen in Brüssel zu verfliegen. Europa stehe schließlich in Sachen Spionage selbst nicht auf Seiten der Engel, diskutierten sie laut Teilnehmern. Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker mahnte zur Vorsicht: Ob man sicher sei, dass die eigenen Geheimdienste niemals Verstöße begangen hätten?

Verhaltenskodex für Spionagedienste

Insbesondere die Bedenken der IT-Industrie fanden Gehör bei den Regierungschefs. Ein Teilnehmer der Beratungen sagte, die Umstellungen beim Datenschutz seien als "beschwerlich" geschildert worden, sie erforderten mehr Zeit. Auch Merkel habe nicht auf Eile gedrängt, was manche ihrer Amtskollegen sehr überraschte.

Die Kanzlerin schien nach Einschätzung von Teilnehmern weit interessierter am "Five Eyes"-Abkommen, in dem die USA, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada organisiert sind. Dieses exklusive Abkommen, 1946 zwischen London und Washington begonnen, sieht vor, dass Verbündete erster Klasse einander nicht ausspionieren, sondern Informationen und Ressourcen teilen. Premier Cameron rechnete in Brüssel seinen Kollegen vor, wie viele Terrorattacken durch erfolgreiche Geheimdienstarbeit verhindert worden seien.

Merkel sagte: "Anders als David sind wir ja leider nicht Teil dieser Gruppe." Die "New York Times" berichtete, dass Deutschland sich seit Jahren um Mitgliedschaft bei "Five Eyes" bemüht habe, aber auch von der Obama-Regierung abgewiesen worden sei. Das könne sich nun ändern.

Frankreichs Präsident François Hollande machte hingegen in Brüssel klar, einer solchen Allianz nicht beitreten zu wollen. Er rief stattdessen zu einem europäischen Verhaltenskodex für Spionagedienste auf, den Großbritannien allerdings ablehnt. Freilich wäre Frankreich bei "Five Eyes" auch nicht willkommen, sagte ein ehemaliger US-Topbeamter SPIEGEL ONLINE: "Deutschlands Aufnahme ist denkbar, aber nicht die von Frankreich: Dafür spionieren die Franzosen selber viel zu aggressiv in den USA."