Die Schweizer sehen den hohen Ausländeranteil kritisch, aber sie wollen zugleich eine Politik mit Augenmass. Die völlig unverhältnismässige Durchsetzungsinitiative blieb deshalb chancenlos.
Es ist noch einmal gutgegangen. Der Rechtsstaat wird nicht beschädigt, die Gewaltenteilung bleibt intakt, und die Richter müssen sich nicht zu Erfüllungsgehilfen der jeweils vorherrschenden politischen Laune degradieren lassen. Vor allem aber können die in der Schweiz lebenden Ausländer aufatmen. Sie werden nicht ins Ghetto einer Zwei-Klassen-Justiz verbannt. Es bestätigt sich der nun schon seit Jahrzehnten anhaltende Trend, wonach die Stimmbürger immer wieder über die richtige Ausländerpolitik streiten, extreme Scheinlösungen wie die Durchsetzungsinitiative aber verwerfen.
Der hohe und in Europa ziemlich einzigartige Ausländeranteil bereitet den Schweizern Unbehagen. Sie plädieren deshalb für eine Eindämmung, bewahren sich aber zugleich eine solide Portion Pragmatismus. Vor ziemlich genau zwei Jahren glaubten viele Bürger der Behauptung der Initiatoren, die Masseneinwanderungsinitiative lasse sich mit dem Vertragsverhältnis zur EU vereinbaren, und stimmten ihr deshalb zu. Man will eben beides haben: eine Reduktion der Einwanderung und zugleich gedeihliche Wirtschaftsbeziehungen zur Europäischen Union. Auch bei der Minarettinitiative konnte man sich einreden, diese richte sich ja nicht gegen den Islam, sondern nur gegen eine mit den christlichen Traditionen der Mehrheitsgesellschaft nicht zu vereinbarende Präsenz von Moscheen im Strassenbild. Ein klares Signal, dies schon, aber bitte keine eifernde Radikalität.
Mit der Durchsetzungsinitiative war jedoch eine Grenze überschritten. Sie hätte selbst in der Schweiz geborene und bestens integrierte Secondos ohne roten Pass in dauerhafte Rechtsunsicherheit gestürzt. Zwei Bagatelldelikte hätten ausgereicht, um in vielen Jahren gewachsene Lebensentwürfe unwiderruflich zu zerstören. Die Initiative liess alle Verhältnismässigkeit und jeden Pragmatismus vermissen. Entsprechend eindeutig wurde sie zurückgewiesen – auch wenn die hohe Zahl der Nein-Stimmen überrascht. Allerdings war sie auch eine ziemlich dreiste Zwängerei. Immerhin hatte das Parlament die Kernanliegen der SVP nach der Ausschaffungsinitiative bereits umgesetzt. Die von der Volkspartei beklagte Missachtung des Volkswillens entlarvte sich deshalb rasch als Propaganda-Popanz.
So weit, so beruhigend. Allerdings liefert der Abstimmungssonntag auch Anschauungsmaterial für einen zweiten, nicht minder konsistenten Trend. Lanciert die SVP eine Initiative in den Bereichen EU und Ausländer, findet sie eine Zustimmungsrate, die deutlich über ihren Wähleranteil hinausgeht. Bei Parlamentswahlen erreicht sie knapp ein Drittel der Stimmen, bei Initiativen hingegen oft eine Mehrheit. Die der Selbstvergewisserung der politischen Mitte dienende Parole von der «70-Prozent-Schweiz» trifft bei den Themen Europa und Migration nicht zu. Hier existiert trotz dem Verdikt vom Wochenende eine «Halbe-halbe-Schweiz».
Weil sie jede Abstimmung in eine Machtdemonstration verwandeln kann, gewinnt die SVP, selbst wenn sie verliert. Auch mit der Durchsetzungsinitiative beherrschte sie die Agenda. Die Partei unterstreicht einmal mehr ihre aussergewöhnliche Mobilisationskraft. Nach der Niederlage wird die SVP nicht klein beigeben, sondern die nächste Initiative in Angriff nehmen. Die «Halbe-halbe-Schweiz» ist ein polarisiertes Land. Die Kontrahenten verbleiben in ihren ideologischen Stellungen, weil sie wissen, dass die nächste Auseinandersetzung bald folgen wird. Der Sonntag ist daher trotz allem kein wirklich guter Tag für die direkte Demokratie.
Denn in der Dauerkonfrontation bleiben der Wille zum Ausgleich und die Bereitschaft zur Mässigung auf der Strecke. An die Stelle des Grundkonsenses, der letztlich alle Lager verbindet, tritt eine Politik mit Unbedingtheitsanspruch. Um ein Ziel zu erreichen, sind einzelne Kräfte bereit, fest verankerte Regeln wie die Unabhängigkeit der Justiz zu opfern. Der Bestand an gemeinsamen Werten wird durch das Crescendo an Initiativen mit immer weitreichenderen Forderungen leichtfertig infrage gestellt. Es ist zwar noch einmal gutgegangen. Eine Antwort auf diese Herausforderung hat die direkte Demokratie aber noch nicht gefunden.